Brauchen wir das 1,5°C-Ziel noch in einer Post-1,5°C -Welt?
02.05.2025

Von Janna Hoppmann und Charlotte Unger
Im Jahr 2024 haben laut Copernicus Climate Change Services die Temperaturen zum ersten Mal kontinuierlich die 1,5 Grad Celsius-Marke überschritten. Diese Nachricht hat weltweit Alarm ausgelöst. Manche Medien haben damit begonnen, von einem Scheitern dieses monumentalen Ziels zu sprechen.
In der internationalen Politik ist jedoch wenig davon zu hören und auf der vergangenen COP 29 in Baku (Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenrechtskonvention der Vereinten Nationen) fand das drohende Nichteinhalten von 1,5°C kaum Erwähnung. Die COPs der UNFCCC setzen weiterhin auf den Slogan "Keep 1.5°C alive!". Die Länder sind aufgefordert, ihre Klima-Ziele zu aktualisieren und ihre nationalen Beiträge (Nationally Determined Contributions, NDCs) "1,5°C-kompatibel" zu machen.
Mit dem Überschreiten von 1,5°C riskieren wir, unsere Glaubwürdigkeit zu verlieren. Es vermittelt die Botschaft, dass wir nicht auf dem richtigen Weg sind, um die globale Erwärmung einzudämmen, dass wir nicht annähernd ausreichend tun und dass wir nicht wirklich entschlossen sind, die von uns festgelegten Ziele zu erreichen. Sollten wir 1,5°C dennoch beibehalten? Und wenn ja, wie müssen wir unsere Kommunikation rund um das 1,5°C-Ziel anpassen? Wir argumentieren, dass wir 1,5°C immer noch als Leitmotiv brauchen. Wir müssen jedoch die Art und Weise ändern, wie wir über dieses Ziel sprechen - in der Wissenschaft und der Politik -, und dabei sozio-psychologische Aspekte berücksichtigen während wir gleichzeitig die Fakten und Annahmen hinter der Wissenschaft transparent machen.
Klimawissenschaft trifft Klimapolitik: Was bedeuten 1,5 Grad und was nicht?
Erstens bezieht sich das 1,5-Grad-Ziel auf die durchschnittliche Temperaturänderung über Jahrzehnte. Im Pariser Abkommen haben sich die Länder darauf geeinigt, "den Anstieg der globalen Durchschnittstemperatur auf deutlich unter 2°C über dem vorindustriellen Niveau zu halten und Anstrengungen zur Begrenzung des Temperaturanstiegs auf 1,5°C zu unternehmen". Dies basiert auf einer über 20 bis 30 Jahre gemittelten Temperaturveränderung (der IPCC verwendet einen 20-Jahres-Durchschnitt und die World Meterological Organisation einen 30-Jahres-Durchschnitt). Mit anderen Worten: Das Erreichen von 1,5 °C im Jahr 2024 bedeutet nicht, dass wir die Ziele des Pariser Abkommens bereits verfehlt haben - noch nicht. The Conversation im November 2024.
Zweitens bedeutet das "den Anstieg (…) zu halten", dass wir das Ziel von 1,5°C dauerhaft einhalten müssen. Dieses Ziel läuft nicht aus, sondern ist eine Verpflichtung, die wir Jahr für Jahr erneuern müssen. Schließlich legt das Pariser Abkommen 1,5°C als unser gemeinsames übergeordnetes Ziel fest. Aber es definiert nicht, was faire Beiträge der Länder zum Erreichen dieses Ziels sind. Es lässt sie selbst entscheiden, was sie wann beitragen wollen. Es gibt keine international vereinbarte Methodik, die definiert, ob nationale Maßnahmen wie NDCs mit dem 1,5°C-Ziel vereinbar sind oder nicht. All diese Merkmale machen das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens politisch komplex.
1,5°C ist ein wissenschaftlich begründetes, vor allem aber ein politisch gesetztes Ziel. Ursprünglich wurde im IPCC-Bericht von 2001 das 2,0°C-Ziel festgelegt. Über viele Jahre hinweg war dies das allgemein akzeptierte Ziel. Das 1,5°C-Ziel hingegen entstand eher abrupt, durch einen politischen Vorstoß. Im Jahr 2009 setzte sich die Allianz der kleinen Inselstaaten (AOSIS) bei der COP dafür ein, den Wortlaut der Kopenhagener Vereinbarung dahingehend zu ändern, dass 1,5°C als "sichere Grenze" festgelegt wurde. Obwohl zu diesem Zeitpunkt die Wissenschaft zu 1,5°C nicht so solide war wie für 2,0° C, stellte sich eine Koalition von Akteuren aus Politik, Wissenschaft und Gesellschaft hinter den strengeren Wert. Trotz schwieriger Verhandlungen gelang seine Aufnahme als anzustrebendes Ziel im Pariser Abkommen. 2018 veröffentlichte der IPCC den Sonderbericht über die globale Erwärmung von 1,5 °C Der Bericht hat das 1,5°C-Ziel ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Seitdem wird es von sozialen Bewegungen und Aktivistengruppen wie Fridays for Future, aber auch politischen und Unternehmensinitiativen (z. B. der Science Based Targets Initiative) aufgegriffen und gilt als Maßstab für die Klimapolitik (z. B. dem Climate Action Tracker). 1,5°C ist zur "goldenen Zahl" geworden, an der sich alle Aktivitäten zur Bekämpfung des Klimawandels orientieren.
Was bedeutet das Überschreiten der 1,5°C-Marke für die menschliche Wahrnehmung und unsere Emotionen?
Die Nachricht von der Überschreitung des 1,5°C-Ziels kann eine Vielzahl von Gefühlen kognitiven und emotionalen Reaktionen auslösen. Zunächst gibt es überraschungsbedingte Emotionen wie Verwirrung, Schock oder Enttäuschung über die offensichtliche Diskrepanz zwischen den wissenschaftlichen Daten und den politischen Slogans: Ist das wirklich so, und was bedeutet das für die Welt, für mich selbst? Solche Reaktionen sind in der breiten Öffentlichkeit häufig, denn die Menschen interessieren sich zwar oft für Klimanachrichten, verfolgen aber nicht die Details der Klimawissenschaft. Zweitens können Gefühle wie Angst, Überforderung und Hoffnungslosigkeit verstärkt werden: Wie wird meine Zukunft und die Zukunft meiner Angehörigen aussehen, wenn die Temperaturen den Grenzwert überschreiten? Diese Reaktion ist besonders häufig bei Menschen zu beobachten, die sich bereits über den KlimawandelSorgen machen.
Drittens werden Menschen, die die Verantwortung für den Klimawandel weitgehend den politischen und wirtschaftlichen Strukturen und anderen Akteuren zuschreiben, wahrscheinlich Wut oder Frustration empfinden: Wie können Entscheidungsträger aus Politik und Wirtschaft dies zulassen? Wenn wir dieses Ziel nicht erreichen können, welche Hoffnung haben wir dann noch? Die Überschreitung der 1,5°C-Grenze kann Menschen dazu bringen, an ihrer Selbstwirksamkeit zu zweifeln - haben wir wirklich die Mittel, um eine klimagerechte Welt zu erreichen? Es kann das Vertrauen in politische Institutionen untergraben, politische Konflikte anheizen und in die Narrative populistischer Bewegungen und rechtsextremer Klimaleugner einfließen.
Schließlich können Menschen, die sich für das Klima verantwortlich fühlen oder die Bemühungen um eine gerechte und faire 1,5°C-Welt unterstützen, auch Emotionen empfinden, die mit Schuld und Scham zu tun haben - warum habe ich oder meine Organisation nicht genug getan?
Diese emotionalen Reaktionen können Menschen demoralisieren und die Klimakooperation gefährden. Es ist wichtig, dass wir sie in einer besseren Kommunikation rund ums 1,5°C-Ziel berücksichtigen.
Das 1,5-Grad-Ziel: ein Leitstern, der den Klimaschutz vorantreibt
Wenn wir einen Schritt zurücktreten, fragen wir uns, warum es überhaupt wichtig ist, Ziele zu haben. Aus psychologischer Sicht fördert allein ein klares politisches Ziel, die Orientierung und Motivation. Es kann dazu beitragen, die Kluft zwischen Wissen und Handlungsabsicht zu überbrücken. Einzelpersonen oder Organisationen neigen dazu, sich stärker zu engagieren, wenn sie wissen, was sie erreichen wollen, da dies die Unsicherheit verringert und Prioritäten für das Handeln setzt (Bandura, 1997). Ziele geben dem Verhalten eine Richtung und fördern die wahrgenommene Selbstwirksamkeit, das Gefühl, durch eigenes Handeln etwas erreichen zu können. Mit anderen Worten: Sie vereinfachen den Schritt von der Absicht zum Handeln. Das 1,5°C-Ziel dient als Leitstern, der komplexe wissenschaftliche Zusammenhänge für die Menschen leichter verständlich macht. Und als Symbol der Hoffnung und des Erfolgs bietet es das Versprechen, dass wir die Klimakrise durch Zusammenarbeit bewältigen können.
Um die Erfolgswahrscheinlichkeit zu erhöhen, sollten die Ziele spezifisch, messbar, attraktiv, realistisch und zeitgebunden (SMART) formuliert werden. Das Ziel, "den [globalen] Temperaturanstieg [möglichst] auf 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen", ist spezifisch, messbar und zeitgebunden, was ihm einen klaren Vorteil gegenüber der abstrakten und diffusen Forderung verleiht, die Staaten sollten "das Klima schützen und die Welt retten". 1,5°C ist spezifisch genug, um die Anstrengungen zur Eindämmung des Klimawandels auf ein gemeinsames Ziel auszurichten. Aus diesem Ziel lassen sich Emissionsbudgets und nationale Verantwortlichkeiten (NDCs) ableiten. Es wurde in politische Pläne und Maßnahmen für Städte, Unternehmen und sogar Einzelpersonen umgesetzt (z. B. Maßnahmen zum CO2-Fußabdruck oder "1,5°-Lebensstile"). Je konkreter solche politischen Pläne sind, desto leichter können wir ihren Erfolg und Misserfolg überprüfen und feststellen, ob sie letztendlich wirklich mit einer 1,5°C-Welt vereinbar sind.
Das 1,5°C-Ziel mobilisiert auch gesellschaftliche Normen, da es den gesellschaftlichen Konsens darüber stärkt, welche Maßnahmen als notwendig und ethisch vertretbar angesehen werden. Die Tatsache, dass es auf der Pariser Klimakonferenz gelungen ist, fast 200 Länder um ein gemeinsames Ziel zu versammeln, ist an sich schon ein großer Erfolg und ein erster Schritt hin zu einem Gefühl der kollektiven Verantwortung für Planeten und Menschen. 1,5°C ist ein recht ehrgeiziger Standard, der als heuristischer Anker - der Bezugspunkt eines Individuums oder einer Gruppe für Urteile und Entscheidungen - (ursprünglich von Tversky & Kahnemann, 1974) fungiert, um den sich die politische und gesellschaftliche Debatte dreht. Ähnlich wie bei einer Gehalts- oder politischen Verhandlung, bei der es sich lohnt, mit möglichst hohen Forderungen anzutreten, hilft eine ehrgeizige Zahl, die Diskussionen in die richtige Richtung zu lenken. Selbst wenn diese Erwartungen nicht erfüllt werden, liegt das Ergebnis wahrscheinlich näher (an der ursprünglichen Vorstellung als ohne eine die ehrgeizige Marke.
Wie sollten wir vorgehen? Können und sollen wir 1,5°C "am Leben" erhalten?
Wie können wir weiterhin auf 1,5°C drängen, wenn wir wissen, dass wir dieses Ziel bereits überschritten haben? Das Festhalten an theoretischen Pfaden, der Möglichkeit einer Überschreitung und dem Argument, dass die "echte" Überschreitung erst in den frühen 2030er Jahren stattfinden wird (laut IPCC, Link), hilft nicht. Ein Großteil der Öffentlichkeit - in Deutschland und weltweit - ist sich der traurigen Gewissheit vielleicht noch nicht bewusst, dass wir dabei sind, 1,5°C zu überschreiten. Das bedeutet aber auch, dass wir noch die Gelegenheit haben, Unsicherheiten anzugehen und mit einer geeigneten Kommunikation laufende und künftige Klimamaßnahmen und politische Entscheidungen weiterhin unterstützen können.
1,5°C ernst nehmen: 1,5°C steht für die Hoffnung auf kollektive Anstrengungen und hat sich als Leitmotiv für die Bemühungen um eine nachhaltige Transformation erwiesen. Wir haben dargestellt, warum es psychologisch wichtig ist, überhaupt Klimaziele zu haben. Ziele bieten einen Maßstab, an dem wir Regierungen und Industrie zur Rechenschaft ziehen können. In einer Welt nach 1,5°C können die Bürger das Ziel weiterhin nutzen, um von den Regierungen mehr zu verlangen. Die Motivation, die hinter dem 1,5°C-Ziel steht, bleibt bestehen: Wir müssen uns bemühen, die unerträglichen Schäden zu vermeiden, die umso wahrscheinlicher sind, je mehr wir die 1,5°C überschreiten. Die Überschreitung von 1,5°C stellt den Konsens, auf dem das Pariser Abkommen beruht, nicht zur Disposition.
Vom Weltuntergangs-Narrativ zur differenzierten und ehrlichen Risikokommunikation: "Jedes Zehntel Grad zählt": 1,5°C war schon immer ein anspruchsvolles Ziel. Obwohl viele Wissenschaftler:innen bei der Verabschiedung des Pariser Abkommens im Jahr 2015 applaudierten, sahen sie zugleich auch die nur geringe Chance, das 1,5°C-Ziel zu erreichen (Cointe & Guillemot, 2023 ). Die Art und Weise, in der 1,5°C politisch hochgehalten und als "sichere Grenze" dargestellt wurde, hat außerdem ein Missverständnis gefördert. 1,5°C ist keine harte Schwelle zwischen einem sicheren und einem unsicheren Klima. Weltuntergangserzählungen dieser Art bergen die Gefahr, die Glaubwürdigkeit der Klimawissenschaft und -politik zu untergraben, indem sie den unmittelbar bevorstehenden Zusammenbruch des Klimas heraufbeschwören, sobald der Grenzwert überschritten wird. Der symbolische Charakter von 1,5°C könnte entmystifiziert werden: Das Überschreiten von 1,5°C bedeutet nicht, dass alle Klimabemühungen umsonst waren. Jedes Zehntel, jedes Hundertstel Grad zählt, und jedes bisschen, das wir erreichen, ist besser als der Status quo.
Gleichzeitig sollten die Bemühungen, 1,5°C am Leben zu erhalten, von einer ehrlichen Kommunikation über die mit einem weiteren Temperaturanstieg und temporären Overshoots verbundenen Risiken begleitet werden. Dazu gehört, dass Durchführbarkeit und Sicherheit vieler Overshoot-Szenarien fraglich ist viele der Folgen des Klimawandels, etwa das Artensterben oder der Verlust von Korallenriffen, unumkehrbar sind - selbst wenn es uns gelingt, die Temperaturen im Nachhinein wieder auf 1,5°C zu senken.
Vom Perfektionismus zur greifbaren Menschlichkeit: Für viele ist das 1,5°C-Ziel immer noch abstrakt. Was bedeutet diese Zahl für das tägliche Leben der Menschen? Für uns, für künftige Generationen und verschiedene Weltregionen? Für unsere Gesundheit, unser Wohnen, für Migration und Krieg? Erzählungen, die sich auf die Botschaft " jedes Zehntelgrad zählt" konzentrieren, könnten durch Beschreibungen und Erzählungen bereichert werden, die die gegenwärtige Politik mit konkreten Ergebnissen verbindet: Bei der Begrenzung der globalen Erwärmung auf 1,5°C geht es darum, möglichst vielen Menschen auf diesem Planeten ein menschenwürdiges Leben zu sichern - heute und in Zukunft. Hunderte von Millionen Menschen leiden bereits heute täglich unter den Folgen des Klimawandels: Sie leiden unter Nahrungsmittelknappheit aufgrund von Missernten, sie können aufgrund extremer Wetterereignisse nicht zur Schule gehen oder arbeiten, haben gesundheitliche Probleme oder werden aufgrund extraktiver Wirtschaftspraktiken ihrer indigenen Gebiete und kulturellen Identität beraubt.
Mit jeder eingesparten Tonne Treibhausgase können wir das Tempo des Klimawandels verlangsamen, seine Auswirkungen mildern und die Folgen begrenzen. Wir sollten gemeinsam an den Hebeln arbeiten, an denen wir am meisten bewirken können, etwa in emissionsintensiven Sektoren. Gleichzeitig sollten wir aber auch kleine Schritte und Verbesserungen auf allen Ebenen fördern - denn angesichts der Dringlichkeit des Klimawandels ist jeder Beitrag wertvoll. Mit anderen Worten: Während wir uns weiterhin um das Erreichen von 1,5°C bemühen, sollten wir unsere Hoffnung nicht aufgeben, auch wenn wir dieses Ziel überschreiten.
Dieser Artikel erschien in einer ähnlichen Fassung bereits am 28. April 2025 in Internationale Politik unter dem Titel „Ein Ziel mit Zukunft“.